«Fände ich eine Stelle, wenn ich eine suchen müsste?»

Daniel Reumiller ist oberster Berufs- und Laufbahnberater der Schweiz und leitet die Berufsberatungs- und Informationszentren (BIZ) im Kanton Bern. Er rät jungen Menschen, sich früh mit ihrem Berufsweg zu beschäftigen. Ältere Berufsleute sollen sich für den Arbeitsmarkt fit halten und eine resignative Zufriedenheit verhindern – zum Beispiel mithilfe des Programms viamia, das Reumiller mitentwickelt hat.

Daniel Reumiller sitz im Anzug an einem Tisch und erklärt etwas
Daniel Reumiller: «Laufbahnberater:innen sind neutral und objektiv, weil sie niemandem eine Aus- oder Weiterbildung verkaufen wollen.»
zvg

Interview: Peter Bader

Herr Reumiller, welches war die wichtigste Entscheidung in Ihrer beruflichen Karriere?
Ich habe relativ spät das klassische Singen für mich entdeckt. Es wurde zu einem Hobby, dann zu einem Zweitberuf. Plötzlich stand ich vor der Frage, ob ich es zu meinem Hauptberuf machen wollte. Ich habe mich dagegen entschieden.

Haben Sie es bereut?
Nein. Sich hauptberuflich als Opernsänger zu behaupten, ist schwierig. Heute bin ich immer noch Opernsänger im Nebenberuf. Das Pendeln zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Berufswelten ist inspirierend – sorgt aber auch dafür, dass ich oft mehr als 100 Prozent arbeite.

Ist die erste Berufswahl heute weniger bedeutend als vor 20 Jahren?
Nein. Viele der damaligen Lernenden sind heute auch nicht mehr in ihrem ursprünglichen Beruf tätig. Wechsel waren schon für sie möglich. Heute ist dies allerdings einfacher, weil das System durchlässiger ist.

Ein Mann – zwei Berufswelten

Daniel Reumiller (58) studierte Informatik und Wirtschaftswissenschaften und absolvierte diverse Ausbildungen in klassischem Gesang und in Operndarstellung. Er war als Dozent und Abteilungsleiter an der früheren Schweizerischen Hochschule für Landwirtschaft tätig, bevor er 2012 Leiter der Berufsberatungs- und Informationszentren (BIZ) des Kantons Bern wurde. Seit 2016 ist er zudem Präsident der schweizerischen Konferenz für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung KBSB. Nebenberuflich tritt Reumiller als Opernsänger auf.

Wann sollte man damit beginnen, den eigenen Berufsweg längerfristig zu planen?
Spätestens während der beruflichen Grundbildung, mit 18 oder 19 Jahren, sollten sich die jungen Leute fragen, wo sie in 10 oder 15 Jahren stehen möchten. Es ist wichtig, dass sie sich damit beschäftigen, wie ihr konkreter Berufsalltag aussehen soll.

Welche Kriterien sind entscheidend bei der Wahl von Aus- und Weiterbildungen?
Zentral ist, sich an klaren beruflichen Zielen zu orientieren und die dazu passenden Aus- und Weiterbildungen zu wählen – und sich nicht von wohlklingenden Titeln von Abschlüssen leiten zu lassen.

Welche Rolle kann die Laufbahnberatung dabei spielen?
Eine wichtige. Laufbahnberater:innen sind neutral und objektiv, weil sie niemandem eine Aus- oder Weiterbildung verkaufen wollen. Gute Laufbahnberatung zeichnet sich durch die richtigen Fragen aus. Zudem können Berufsberatende das ganze Spektrum an individuellen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen und einordnen. Das ist nur beschränkt möglich, wenn man etwa auf berufsberatung.ch selbst recherchiert.

Sie haben das von Bund und Kantonen initiierte Programm viamia mitaufgebaut. Dank diesem erhalten über 40-jährige Berufsleute, Wiedereinsteiger:innen oder Selbstständige eine kostenlose berufliche Standortbestimmung. Sollten das alle machen?
Grundsätzlich schon, ja, denn viele in diesem Alter haben sich seit längerer Zeit nicht mehr mit ihrem Berufsweg beschäftigt. Deshalb ist es wichtig, wieder einmal die eigenen Ressourcen abzuklären: Würde ich eine Stelle finden, wenn ich eine suchen müsste? Und was für eine könnte das sein? Neben der Arbeitsmarktfähigkeit ist bei viamia auch die Motivation wichtig.

Was heisst das?
Man sollte sich fragen: Bin ich zufrieden mit meiner Arbeitssituation? Liegt das an der Arbeit oder doch eher am Begegnungangenehmen Chef und den netten Kolleginnen und Kollegen? Bin ich in fünf Jahren auch noch zufrieden? Ab 40 ist die Gefahr einer resignativen Zufriedenheit gross: Irgendwann geht es nur noch darum, bis zur Pensionierung durchzuhalten.

Das viamia-Programm ist inzwischen in allen Kantonen verfügbar. Wie kommt es an?
Unsere Erfahrungen zeigen, dass Berufsleute mit den Beratungen sehr zufrieden sind. Die meisten nehmen zwei oder drei Gesprächstermine wahr. Sie sind danach selbstbewusster und motivierter. viamia nimmt vielen einfach auch nur diffuse Ängste bezüglich ihrer beruflichen Perspektiven.

«Unsere Erfahrungen zeigen: Nach einer viamia-Beratung sind ältere Berufsleute motivierter und selbstbewusster.»

Ist es für ältere Mitarbeitende heute schwieriger als früher, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten?
Nein, das war schon früher nicht einfach. Wenn jemand seit 25 Jahren in der gleichen Firma arbeitet, vielleicht sogar in immer derselben Funktion, oder lange keine Weiterbildungen gemacht hat, kann ein Stellenwechsel in gewissen Branchen ab 50 sehr problematisch sein. Denn Arbeitgebende fragen sich: Kann er oder sie sich noch in eine neue Arbeitsumgebung integrieren? Und hat er – neben der Erfahrung, die durchaus noch zählt – tatsächlich auch mehr Skills als die junge Mitbewerberin? Ältere Mitarbeitende müssen mehr bieten, weil sie auch höhere Lohnvorstellungen haben.

Kann man sich beruflich auch ohne regelmässige Weiterbildungen fit halten?
Das ist je nach Branche und Beruf sehr unterschiedlich. Grundsätzlich kann man sich etwa darum bemühen, im Betrieb an Entwicklungsprojekten abseits des Tagesgeschäfts mitzuarbeiten oder neue Tätigkeiten zu übernehmen. Oder im Rahmen eines Job-Enrichments weitere Arbeitsschritte in die eigene Tätigkeit zu integrieren. Viele Betriebe bieten solche Möglichkeiten an.

Was ist entscheidend für einen guten Berufsweg?
Das ist sehr individuell. Grundsätzlich: dass man sich bis zum Schluss im Alltag gefordert und zufrieden fühlt. Und dass man aktiv etwas daran ändert, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Ich selber habe mich immer von meinen vielfältigen Interessen leiten lassen und unterschiedliche, sinnstiftende Tätigkeiten gesucht.

  • Peter Bader, freier Redaktor, Kommunikation EHB